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Lecture à plusieurs
Die gemeinsame Diskussion eigener Lektüren: die lecture à plusieurs wurde als Modus der Objektivierung einer Lektüre von Jean Bollack, dem großen französischen Gräzisten, Übersetzer und Philosoph in seiner ›École de Lille‹ praktiziert und theoretisch begründet. Dem Peter Szondi-Kolleg liegt die Überlegung zugrunde, dass sich die Wissenschaftlichkeit von Lektüren in mehreren Schritten ergibt. Grundbedingung ist ein Vermögen des einzelnen Lesers, der Individualität eines Gedichts gerecht zu werden – dieser Schritt erfordert, um es im Sinne der ›Kritik der Urteilskraft‹ von Kant zu sagen, ein literarisches Werk zu verstehen, das Regeln anwendet, ohne für die Anwendung der Regeln eine Regel zu besitzen. Dieser Schritt ist praktisch: Die Praxis lässt sich in der reflektierten Übung verbessern. Das hier gewonnene Verständnis ist – in einem zweiten Schritt – in ein Argument zu überführen, das sich mitteilt. Der Übergang ist nicht abrupt, denn schon in der Ausbildung eines praktischen Vermögens wirkt das Argumentative qua Gespräch des Lesers mit sich selbst. Und schließlich muss sich, drittens, das Argument in der Diskussion mit anderen Lesern bewähren, im wissenschaftlichen Diskurs. Freilich sind diesem Diskurs kulturelle und wissenschaftsgeschichtliche Grenzen gesetzt, sodass nicht nur gilt, was anerkannt wird, sondern auch, was ein Leser kraft seiner Subjektivität und Hartnäckigkeit sich selbst gegenüber behauptet. Was sonst soll man tun, wenn die Zeit noch nicht ›reif‹ ist? Mit der Historizität der Erkenntnis ist zu rechnen. Jedoch folgen alle drei Schritte einer Maxime, die heute für die Interpretation literarischer Werke nicht selbstverständlich ist, nämlich dass es möglich ist, in Bezug auf das Werk und das, was ich dessen Materialität nenne, Lektüren zu verwerfen. Werke sind also keine Folien freier Sinnprojektionen und sie lösen auch Sinnansprüche nicht prinzipiell auf (wie es eine Dogmatik des Pluralismus will). Jeder Streit über ein Werk spricht als solcher schon dagegen.